BLICKWINKEL

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Familie

Jede Krise ist eine Chance – aber was, wenn sie nicht vorbei geht? Wir alle können das C-Wort nicht mehr hören. Wohl jeder wünscht sich eine Rückkehr zum normalen Alltag, der für uns pflegende Familien schon vor der Pandemie ein täglicher Kraftakt war. Ich hoffe, dass wir bald wieder kleine Auszeiten nehmen können. Ich schmiede erste Pläne. Unsere Post-Corona-Bucket-Liste sieht unter anderem vor: 1. Mit Freund*innen einen schönen Abend verbringen – mit Cocktails auf einer Terrasse oder im Biergarten 2. Ans Meer fahren – ein riesiger Wunsch unserer Tochter, die mit vier noch nie einen Strand unter den Füßen hatte. 3. Unseren 10ten Hochzeitstag (nach)feiern mit irgendwas, das an Marokko erinnert, sei es ein Hamam oder gutes Essen zu zweit. Eigentlich wollten wir dazu nach Marrakesch zurückkehren, das war unser wohl schönster Urlaub mit unserem alten, ausgebauten Bus, bevor wir Eltern und zum „privaten Pflegedienst“ wurden.

Oh dieses Fernweh! Einige fahren bereits in den Urlaub. Auch wir sind inzwischen zweimal geimpft, aber wir trauen uns nicht so schnell. Zu groß die Angst, dass unser Junior sich infiziert. Was mir in all den Jahren wichtig war, ist, an mein altes Ich anzuknüpfen, das mir so oft verloren schien. Was macht mich aus, was ist mir wichtig im Leben und uns als Paar. Denn das Reisen, unser großes gemeinsames Hobby, ist auch ohne Pandemie so gut wie nicht drin, von der gesundheitlichen Situation bedingt, den Kosten und nicht zuletzt der fehlenden Kraft. Also was dann? Wir sind beide kreativ, aber jeder für sich. Beide gerne im Grünen. Wir waren beide so kleine Hippies als wir uns kennenlernten und jetzt? Genau von dieser Menschengruppe, die mich früher prägte, fühle ich mich seit Corona sehr entfremdet. Ich bin überrascht, wie viele sich als kritisch Denkende einstufen, während sie abstruse Theorien teilen. Ja, auch wir sind dankbar für alternative Behandlungsmethoden – aber wir kämen nie auf die Idee hinter schulmedizinischer Forschung eine Verschwörung zu vermuten. Wir sind auch nicht zufrieden mit vielen Vorgaben, hätten uns statt mehreren halbschaurigen ein, zwei konsequente Lockdowns gewünscht. Aber, dass Eltern sich nun mit „besorgten Bürgern“ zusammentun und Kinderschuhe vor Rathäusern abstellen, um gegen Tests und Masken zu demonstrieren? Das finde ich unglaublich kurzsichtig und außerdem unsolidarisch mit Risikogruppen.

Die Masken fallen bereits jetzt. Oder in der allgemeinen Erschöpfung und Frustration gehen Menschen Wege, die ich nicht nachvollziehen kann und will. Einige Freundschaften kommen ins Wanken, das tut mir in der Seele weh. Auch ich bin nicht glücklich mit vielen Entscheidungen der Politik und ich leide mit allen, deren Existenzen bedroht sind. Trotzdem ist weder Verharmlosung noch Panik angebracht. Zu schnelle Lockerungen für Geimpfte und Genese sehe ich auch ungerne. Doch von einer Zweiklassengesellschaft zu sprechen – ist das angebracht? Ja, und zwar schon lange: Die gesetzlich und privat Versicherten, die gesunden Menschen und die, die schwer erkrankt und behindert sind und tagtäglich gegen unzählige Barrieren ankämpfen! Wie sich Privilegierte zu Opfern hochstilisieren ertrage ich kaum. Ich halte es hier mit Immanuel, der mir sonst oft zu spröde ist: „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“ Und ich hoffe, dass wir alle wieder weniger Hürden und Vorschriften vorgesetzt bekommen und lernen unsere Freiheit zu schätzen.

Ein Beitrag von Verena Niethammer