Das Prickeln am Fuß oder warum für Endrik, Lydia und Mario Fußkitzeln etwas ganz Besonders ist

Das Prickeln am Fuß oder warum für Endrik, Lydia und Mario Fußkitzeln etwas ganz Besonders ist

Endriks große Augen beobachten das Geschehen: Nicole hat Geburtstag. Sie wird umarmt. Gratulationen erfüllen den Raum, Geschenke wechseln den Besitzer. Wir lassen Nicole hochleben und alle wünschen ihr das Allerbeste. Während wir „Großen“ anstoßen, haben sich die Kinder längst aus dem Staub gemacht. Die Kinder – das sind „unsere“ AMPU KIDS und ihre Geschwister, viele von ihnen schon längst dicke Freunde.

Endrik ist zum ersten Mal dabei. Er kuschelt sich an Mama und Papa, schaut sich um, wartet ab. Viele Minuten später, ganz unvermittelt und plötzlich, ertönt ein bezauberndes Geburtstagslied. Endrik singt und wir alle halten den Atem an. Er singt. Zuerst ganz leise, dann immer lauter mit wunderschöner Stimme: „Weil heute dein Geburtstag ist …“ Wir Erwachsenen sind nicht nur überrascht, sondern sprachlos und gerührt. Endrik singt weiter: „… da hab ich mir gedacht … Ich singe dir ein schönes Lied, weil dir das Freude macht!“

Endrik ist vier Jahre alt und gar kein AMPU KID im eigentlichen Sinne. Im Laufe des Abends erzählen Mama Lydia und Papa Mario ihre Geschichte von Hoffen, Ängsten, Wünschen und Zuversicht.
Als bei Lydia im Februar 2014 eine Schwangerschaft festgestellt wird, sind sie und Mario zwar ein wenig überrascht, aber in erster Linie einfach nur glücklich!
In der 20. Schwangerschaftswoche steht die Feindiagnostik beim Gynäkologen an. Die werdenden Eltern sind voller Vorfreude auf die ersten Ultraschallbilder ihres Nachwuchses. Sie hoffen auch auf einen klitzekleinen Blick auf das Geschlecht ihres zukünftigen Familienmitgliedes.
Die Untersuchung dauert zwei Stunden und Lydia und Mario verlassen die ärztliche Praxis nicht mit der Information, ob es ein „Er“ oder eine „Sie“ wird, und schönen Ultraschallbildern, sondern mit höchster Verunsicherung und vielen Ängsten. Die Ultraschalldiagnostik hat mehrere Auffälligkeiten ergeben.

Auffälligkeiten am Herzen, das mittig und nicht links sitzt und ein Loch hat. Auffälligkeiten an der Lebervene, die nicht den normalen Weg nimmt. Und Beine, die in einer Zwangshaltung verharren und daher nicht beurteilt werden können.

Doch Lydia und Mario nehmen nicht nur Sorgen mit nach Hause, sondern auch die Hoffnung, dass ihr Nachwuchs heute einfach keine Lust hatte, die Beine auszustrecken. Jedoch wird diese Hoffnung enttäuscht: Man schickt die werdenden Eltern aufgrund der vielen Auffälligkeiten zu einer humangenetischen Untersuchung. Weitere mögliche Anomalien sollen dort abgeklärt werden. Lydia und Mario erinnern sich noch gut: „Zum Glück wurde eine genetische Ursache ausgeschlossen. Und auch die weiteren Untersuchungen während der Schwangerschaft verliefen ohne jede weitere Auffälligkeit!“

Die zukünftigen Eltern fühlen und beobachten voller Freude das Boxen und Strampeln ihres Nachwuchses. Auch wenn sich die Zwangshaltung der Beine nicht verändert, hoffen sie, dass es sich letztlich nicht um eine Fehlbildung handelt.

Endrik kommt am 10. September zur Welt. Ohne Komplikationen mit geplantem Kaiserschnitt. Aber sofort ist klar erkennbar, dass der rechte Unterschenkel erhebliche Fehlbildungen auf- weist. Fuß und Unterschenkel sind verdreht und der Fuß hat nur drei Zehen. Neben all der Freude über den putz munteren neuen Erdenbürger sind nun bei Lydia und Mario Arzt- und Klinik- besuche an der Tagesordnung.

Heute sagt Mario nachdenklich: „In den folgenden Wochen haben wir drei uns richtig gut aneinander ge- wöhnt. Endrik entwickelte sich hervorragend und absolut altersgerecht. Er entdeckte die Welt mit großen Augen, spielte Verstecken mit seinen Kuscheltieren und steckte auch schon mal spitzbübisch die Zunge heraus!“ Das allein half der kleinen Familie durch die nun folgen- de schwere Zeit. Diagnostik, Zweitmeinungen, wohlgemeinte Ratschläge …

Aber alle, ausnahmslos alle befragten Ärzte raten zur Amputation des Beines. Eine Röntgenaufnahme hat mittlerweile das gesamte Ausmaß, die Komplexität und Schwere der Fehlbildung bestätigt.
Der 8. Juli 2015 steht bald im Kalender von Lydia und Mario. Ein Termin, der Angst macht, der Termin für die Amputation. Nach zahllosen kräftezehrenden Abwägungen, Gesprächen und Untersuchungen die letzte Option für die Eltern.

Heute, drei Jahre später, sind sich Lydia und Mario einig, dass sie „damals“ unglaublich großes Glück hatten. Ein Orthopädietechniker, mit dem sie vor der Amputation über Möglichkeiten einer pro- thetischen Versorgung sprachen, machte sie mit Micha bekannt.

Micha – ein erwachsener Mann, der ähnliche Fehlbildungen hat wie Endrik. Er hat sich nie amputieren lassen. Nur drei Wochen vor der geplanten Amputation lernen die vier sich kennen. Micha, dessen fehlgebildetes Bein sich in einer Orthoprothese befindet, gibt der Familie Mut. Lydia und Mario sagen den OP-Termin ab. Sie gehen nun den Weg, den Micha ihnen nicht nur beschrieben hat, sondern auch vorlebt. Und obwohl dieser Weg immer wieder geprägt sein wird von komplizierten Operationen, ständiger Reparatur und Neuanpassung einer eigens für Endrik entwickelten Orthoprothese, sind sich Lydia und Mario einig: „Heute ist das der richtige Weg!“

Wie sich Muskulatur, Knochen, Sehnen und Gefäße an Endriks Bein entwickeln, wissen die Eltern nicht. Sie wissen jedoch, dass sie sich vielleicht eines Tages erneut mit der Option einer Amputation auseinandersetzen müssen. „Vielleicht haben wir Glück und können Endriks Unterschenkel durch immer besser werdende Orthopädie- technik erhalten!“, sagt Lydia. Inzwischen flitzt Endrik mit den anderen Kindern einem großen Ball hinterher. Dann springt er seiner Mama auf den Schoß, schaut Nicole an und singt die zweite Strophe des Geburtstagsliedes. Der Text geht in fröhlichem Glucksen unter, Papa Mario hat Endrik an der rechten Fußsohle gekitzelt.

Ein Beitrag von Andrea Vogt-Bolm