Eine Schule in Kenia – eine Chance für Kinder

Rebecca Bader

Alter: 18
Herkunft: Deutschland, aus der Nähe von Hamburg
Wohnort: Kithyoko, Kenia

Seit Beginn 2018 arbeite ich als Freiwillige im MEDGO DEAR Center in Kithyoko, einem kleinen Örtchen ca. drei Autostunden östlich von Nairobi. Organisiert wird das Ganze vom ICJA e.V. und über das Programm „weltwärts“, das jährlich mehr als 3000 junge Menschen finanziell dabei unterstützt, einen Freiwilligendienst im Ausland zu machen. Generell wird das Jahr als Lerndienst angesehen; das veraltete Bild eines weißen Missionars, der kommt, um armen Menschen zu helfen, soll ausradiert werden. Stattdessen wird auf interkulturelle Begegnungen und Verständnis auf einer Ebene gesetzt. Auch ich kann bestätigen, dass ich in diesem Jahr so viel mehr erhalten und gelernt als gegeben habe.

In Deutschland bin ich schon das eine oder andere Mal mit dem Thema Behinderung in Berührung gekommen, doch immer eher am Rande. Trotzdem gab ich in meiner Bewerbung aus einem Impuls heraus den Arbeitsbereich „Kinder mit Behinderung“ als meinen Wunschbereich an und dieser Wunsch wurde mir erfüllt. Im Nachhinein weiß ich, dass es genau das Richtige war, da ich niemals mit dem Problem vieler Freiwilliger in Grundschulen oder Kindergärten konfrontiert wurde: Langeweile gibt es in dieser Schule nicht. Außerdem empfinde ich die Arbeit mit den Kindern als eine große Bereicherung. Ich bin natürlich keine Expertin geworden bin, aber dennoch habe ich viel über körperliche und mentale Behinderungen und deren Therapiemöglichkeiten gelernt.

Fast alle der durchschnittlich 30 Kinder, die hier betreut werden, haben mich ganz unvoreingenommen und freundlich aufgenommen und mir dadurch schnell ein Gefühl des Willkommenseins vermittelt. Da ich die zweite Langzeitfreiwillige in diesem Projekt bin, waren viele der Kinder schon etwas an weiße Gesichter gewöhnt. Trotzdem stellte ich einen bemerkenswerten Unterschied zu den kenianischen Kindern, die ich auf der Straße oder in anderen Schulen traf, fest. In vielen kleineren Orten ist es bei Kindern durchaus üblich, einer weißen Person nachzurufen oder sogar in die Haare zu fassen. Ein paar Mal habe ich auch erlebt, dass sehr kleine Kinder erschraken und weinend vor mir wegliefen. „Unsere“ Kinder dagegen scheinen sehr selten überhaupt einen Unterschied zu machen, was mich sehr positiv überraschte. Natürlich haben wir auch einige Kinder, die nur sehr eingeschränkt interagieren können, aber auch diejenigen mit leichter Behinderung scheinen sich über verschiedene Hautfarben keine Gedanken zu machen, sodass ich im Projekt fast nie mit Vorurteilen konfrontiert wurde.

Als ich realisierte, dass meine Zeit sich langsam dem Ende zuneigte, und mir überlegte, wie ich das Beste aus dieser übrigen Zeit machen könnte, da fiel mir auf, dass ich das ganze Jahr über mit den Kindern, den Lehrern, den Therapeuten und den Pflegern in Kontakt war, aber so gut wie nie mit den Eltern.

Da die Redaktion des Magazin Momo begeistert von meiner Idee war, machte ich mich daran, diese umzusetzen. Mithilfe von Alex Ndili, der die älteren Schüler in Mathematik und Kiswahili unterrichtet, meine Fragen in die lokale Sprache Kikamba übertrug und mir wiederum die Antworten der Eltern auf Englisch übersetzte, konnte ich zwei Mütter zu den unterschiedlichsten Dingen befragen. Vielleicht wird Ihnen nun also eine komplett neue und fremde Sichtweise präsentiert, vielleicht finden Sie sich jedoch in der ein oder anderen beschriebenen Situation selbst wieder und stellen fest, dass wir alle gar nicht so verschieden sind.

Mama Kamene

Alter: 34
Ort: Kyethani, Kitui County, Kenia
Familienverhältnisse: verheiratet, vier Kinder (11, 9, 5 und 3 Jahre alt)

Hallo Mama Kamene!

Kannst du uns deine Tochter Kamene vorstellen?
Kamene ist mein drittes Kind und fünf Jahre alt. Was war nochmal der genaue Name ihrer Krankheit? Ach ja, Zerebralparese. Ihre Arme und Beine sind steif und sie kann nicht sprechen. Seit einem Monat lebt sie jetzt im Internat MEDGO DEAR Center in Kithyoko.

Wann hast du von ihrer Behinderung erfahren? Wie hast du darauf reagiert?
Einen Tag nach ihrer Geburt haben uns die Ärzte im Krankenhaus die Diagnose gestellt. Ich hatte sehr viel Angst und ein schlechtes Gefühl. Ich wusste vorher nicht, dass es solche Krankheiten gibt und war deshalb unvorbereitet. Ich hatte keine Ahnung mehr, wie die Zukunft aussehen würde, alles war auf den Kopf gestellt.

Bitte beschreibe uns deinen Alltag, wenn Kamene zuhause ist.
Wenn sie zuhause ist, bleibt kaum Zeit für andere Dinge. Ein Kind wie sie kann man nicht alleine lassen, deshalb bleibe ich immer bei ihr, sie muss gefüttert, gewaschen und gewickelt werden. Da die Schule bald für eine Woche schließt und Kamene nach Hause kommt, mache ich jetzt schon alle Arbeit auf dem Feld, die gemacht werden müsste, damit ich dann Zeit habe, bei ihr zu sein.

Hattest du nach ihrer Geburt Angst, weitere Kinder zu bekommen?
Zuerst schon, aber dann habe ich mit anderen Müttern geredet, und viele haben mir gesagt, dass sie Leute kennen, die nach einem Kind mit Behinderung noch weitere, gesunde Kinder bekommen haben. Jetzt ist es für uns aber genug, wir wollen keine weiteren Kinder. Das liegt aber einfach nur daran, dass wir sie nicht gut versorgen könnten, es hat nichts mit der Behinderung zu tun.

Wie haben deine Freunde, Nachbarn und Verwandte reagiert, als sie davon hörten?
Alle waren zuerst überrascht und mitfühlend, die einzige negative Reaktion, die wir bekamen, war die meiner Schwiegereltern. Sie beschuldigten mich, ich hätte versucht abzutreiben oder während der Schwangerschaft eine der in dieser Region Kenias traditionellen aber mittlerweile verpönten „Hexen“ konsultiert. Eine gute Beziehung hatten wir schon lange nicht mehr, aber jetzt haben wir so gut wie keinen Kontakt mehr zueinander. Dafür sind meine Eltern für ihre Enkelkinder da.

Bekommst du die Unterstützung, die du brauchst?
Die Nachbarn kümmern sich um die anderen Kinder, wenn ich z. B. mit Kamene zum Arzt muss, eben normale Nachbarschaftshilfe. Aber meistens bin ich ja da. Die Ärzte im Krankenhaus geben auch oft Tipps und haben uns gut vorbereitet, als wir nichts wussten.

Liebst du alle deine Kinder auf die gleiche Art und Weise?
Ja, keine Frage. Ich liebe alle, sie gehören einfach zu mir.

Wie stellst du dir dein und Kamenes Leben in 20 Jahren vor?
Im Krankenhaus wurde uns keine Hoffnung gemacht, dass sich ihr Zustand jemals wirklich verbessern wird. Deshalb bin ich bereit, bis zum Ende auf sie aufzupassen, egal ob sie zuerst oder ich zuerst von dieser Welt gehe. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie irgendwann z. B. sprechen lernen wird, aber sie wird sicher immer von mir abhängig sein.

Warum hast du Kamene hauptsächlich in diese Schule geschickt? War die Entscheidung schwer für dich?
Hier profitiert sie von Physiotherapie und kann jederzeit ins Krankenhaus gebracht werden. Auch die Ausstattung im Schlafsaal oder dieses Essen können wir ihr zuhause nicht bieten, wir wissen, dass sie es hier gut hat. Deshalb war es keine schwierige Entscheidung, auch wenn es ein komisches Gefühl ist, von ihr getrennt zu sein. Andererseits wäre sie als gesundes Kind sowieso langsam in dem Alter, eingeschult zu werden.

Wie hoch ist der finanzielle Aufwand für ein Kind mit Behinderung für euch?
Es ist wirklich schwer. Mein Mann arbeitet auf dem Bau und ich bin nur zuhause bei Kamene und kümmere mich um den Garten und die Dinge, die wir anbauen. Fast alles in Zusammenhang mit der Behinderung ist teuer – Medikamente, Windeln, die Therapie …Wenn Kamene zuhause ist, können wir nicht einfach für alle Bohnen kochen, sie braucht weiches, gut kaubares Essen und muss besonders gut versorgt sein, weil sie uns ja nicht immer mitteilen kann, ob es ihr gerade an etwas fehlt.Die Regierung unseres Countys stellt zwei- oder dreimal im Jahr eine kleine finanzielle Unterstützung von circa 5000 Kenia-Schilling (ungefähr 40 Euro) zur Verfügung, auf die man sich bewerben kann. Aber viel hilft das nicht.

Bist du religiös? Wie denkt Gott deiner Meinung nach über Kinder mit Behinderung? Viele Menschen sagen, er liebt alle Kinder genau so, wie sie sind, manche sagen, sie wären eine Art „Fehler“ in seiner Schöpfung.
Die Bibel sagt, Gott liebt uns alle so, wie wir sind. Außerdem heißt es, er hat uns nach seinem Abbild geschaffen. Und woher wollen wir wissen, ob Menschen mit Behinderung nicht auch seinem Abbild entspringen? Genauso wie du weiß und ich schwarz bin, kommen Menschen ganz verschieden auf die Welt.

Wie gehen Kamenes Geschwister mit ihrer Behinderung um?
Sie lieben Kamene genauso wie ich. Wenn ich nicht in der Nähe bin, wechseln die beiden Großen ihre Windeln, kochen für sie und füttern sie. Wenn es Kamene nicht gut geht, hat das auch Einfluss auf die Laune ihrer Geschwister, sie sind dann besorgt und traurig. Selbst mein jüngstes Kind sagt mir: „Mama, das Baby weint! Kümmere dich um sie!“ Einmal waren die Großen bei ihr, und sie hat plötzlich angefangen, laut und lange zu lachen, was sehr selten vorkommt. Das war ein ganz besonderes Erlebnis für beide!

Ist es einfach für dich, mit Kamene zu kommunizieren, zu verstehen, was sie möchte?
Ja, ich weiß meistens genau, was sie möchte. Für meinen Ehemann ist es nicht einfach, weil er wegen der Arbeit meistens unterwegs ist und deshalb nicht so eine tiefe Bindung zu ihr aufbauen kann. Natürlich liebt er trotzdem alle seine Kinder.

Wie fühlt es sich an, mit Kamene unterwegs zu sein? Bekommst du viele Blicke oder Kommentare?
Oft werden mir Fragen gestellt, und ich erkläre, was mit ihr los ist. Ich verstehe die Neugier, da die meisten Menschen einfach nicht wissen, was genau eine Behinderung ist. Negative Bemerkungen bekomme ich so gut wie nie in der Öffentlichkeit.

Was für Veränderungen müssten passieren, um die Situation von dir, deiner Familie und deinem Kind einfacher zu machen? Von Seiten des Staates, der Schule, der Kirche oder anderen?
Ich finde, die Regierung sollte uns unterstützen, Dinge wie einen Rollstuhl, andere Therapiehilfsmittel, Windeln und Krankenhauskosten zu finanzieren, gerade diese können schnell auf einer ganz anderen Ebene sein als bei normalen Krankheiten. Es wäre gut, wenn Menschen mehr über Behinderung wüssten, aber ich weiß nicht wie. So wirklich kann man es erst verstehen, wenn man selbst ein Kind mit Behinderung hat.

Text: Rebecca Bader, Fotos: Rebecca Bader, pixabay.com