Elizans Geschichte

Elizan mit ihren Eltern

Hallo.
Sie sind wahrscheinlich ganz verwundert,
wieso ich Ihnen eine E-Mail schreibe.

Ich möchte mich ganz kurz vorstellen, damit Sie auch wissen, wer Ihnen schreibt. Ich heiße Lisa Akay, bin 32 Jahre alt und komme aus Moers. Ich wohne mit meinem Mann und meinen zwei wundervollen Kindern zusammen.
Und da kommen wir auch schon zum Thema: Es geht um meine kleine Tochter Elizan. Sie ist an einem sehr seltenen Syndrom erkrankt. Die Diagnose haben wir im Juli 2019 bekommen. Mit vier Monaten hatte sie ihre erste OP nach der Diagnose ­„Hydrocephalus“ – so hat die Leidensgeschichte begonnen.

Elizan füttert einen Esel
Elizan hält ihrem Bruder die Augen zu

Per Noteinweisung sind wir ins Krankenhaus gefahren und von da an war nichts mehr, wie es war. Unzählige OPs folgten daraufhin, es kamen immer mehr Krankheiten dazu. Ich musste mich als Mutter einsetzen, dass diese diagnostiziert wurden. Es folgten ein Herzfehler und Nierenerkrankungen. So lief es die letzten vier Jahre: viele OPs und Krankenhausaufenthalte.

Irgendwann fing es an, dass Elizan sich komisch verhalten hat. Sie hat aus dem Nichts sehr extreme Wutanfälle bekommen. Diese waren aber nicht so, wie ich sie von meinem größeren Sohn kannte. Sie war auf einmal ein völlig anderes Kind, hat mich gebissen, geschlagen, mir die Haare rausgezogen. Ich wusste nicht mehr weiter und war so verzweifelt. Zudem habe mir so schlimme Vorwürfe gemacht, dass ich nicht gut genug bin als Mutter. Irgendetwas muss ich doch falsch gemacht haben. Familie und Freunde waren davon überzeugt, dass es wegen der ganzen Krankenhausaufenthalte so gekommen ist. Was sollte man auch erwarten – ein kleines Mädchen, das zwei Jahre nur leiden musste und kaum einen Moment hatte, ohne Schmerzen zu sein.

Von da an war nichts mehr, wie es war.

Kurz nach ihrem zweiten Lebensjahr kam noch hinzu, dass sie nicht schlafen konnte. Sie hat sich gequält und sich in der Nacht geschlagen und den Kopf gegen die Wände gehämmert aus lauter Verzweiflung. Wir als Eltern waren am Ende. Das war doch nicht mehr unsere Kleine. Wir sind von Arzt zu Arzt gerannt, weil wir uns sicher waren, dass irgendetwas nicht stimmt. Dazu kam, dass sie sich einfach nicht „normal“ entwickelt hat. Sie war mit 24 Monaten auf dem geistigen Stand eines zehn Monate alten Babys. Sie wächst nicht richtig, kann nicht richtig sprechen und nicht essen – hierbei verschluckt sich Elizan mehrmals.

Gott sei Dank begleitete uns bei der Frühförderungsstelle eine supertolle Ärztin, die Kontakte zu der Humangenetik in Münster hatte. „Ich glaube, etwas stimmt nicht mit Elizan. Das sollten wir von Profis kontrollieren lassen.“ Fünf Monate später, nach der Aufnahme und Untersuchungen in der Humangenetik, habe ich einen Anruf bekommen: „Hallo Frau Akay. Wir haben die Ergebnisse von Ihrer Tochter Elizan. Es hat etwas gedauert, weil wir den Chromosomentest zweimal durchgeführt haben, um 100 Prozent sicher zu sein. Wenn es möglich ist, kommen Sie bitte nächste Woche zu uns.“

Elizan verkleidet

Eine Woche lang konnte ich nicht schlafen.

Dann kam der Tag des Termins und ich war sehr aufgeregt. Was werden sie mir wohl sagen? Habe ich gleich eine Erklärung für Elizans Verhalten? Wieso sie sich selbst verletzt, den ganzen Tag nur schreit, den Kopf gegen die Wand haut und nicht schlafen kann. Da saß ich dann nun. Ich war wie in Trance. „Ihre Tochter hat das Smith-Magenis-Syndrom (SMS).“ DAS WAS? „Bei Ihrer Tochter liegt ein Defekt am 17. Chromosom vor. Ein Stückchen vom kleinen Ärmchen fehlt, dadurch fehlen ihr 54 Gene. Ihre Tochter wird geistig immer schwer behindert bleiben.“

Ich habe so geweint.
Zuerst war es Erleichterung!
Ich hatte eine Erklärung, wieso sie so ist, und habe nichts falsch gemacht!

Der andere Gedanke: Wie soll ich das schaffen? Ich kann doch kein schwerbehindertes Kind großziehen. Ich werde sie niemals in einem weißen Kleid sehen oder Enkelkinder von ihr kriegen. Was für ein doofer Gedanke. Aber heute weiß ich, das ist ein normaler Gedanke, und einige Eltern aus unserer Selbsthilfegruppe hatten ebenfalls diese Gedanken. Nach dem Gespräch fuhr ich nach Hause und fiel meinem Mann weinend in dem Arm. Mir wurde in den Tagen danach erst bewusst, was das für den Rest unseres Lebens heißt! Ein schwerbehindertes Kind, was nicht normal ist, aber irgendwie doch normal.

Elizan mit ihrem Bruder

Wieso ich Ihnen all das ­Persönliche erzähle?

Ich habe ein großes Verlangen nach Aufklärung – Aufklärung über ein Leben mit einem behinderten Menschen in seinem Leben. Ich möchte, dass mit den Vorurteilen über behinderte Menschen aufgeräumt wird. Ich möchte, dass die Menschen sehen, dass es auch Menschen mit einer Behinderung gibt, die man nicht auf den ersten Blick sieht. Dass man nicht Urteile fällt über eine Situation, die man in Sekunden oder Minuten mitbekommt. Denn sie sind nicht böse, wenn sie einen schlimmen Wutanfall bekommen, wenn sie in der Öffentlichkeit schreien, sich schlagen. Wir haben uns schon sehr viele böse Kommentare anhören müssen. Ich wünschte mir, man hätte uns einfach gefragt, ob wir Hilfe brauchen. Wenn Elizan könnte, würde sie sich richtig verhalten. Wenn Menschen mit SMS sich freuen, dann freuen sie sich, und zwar so laut, dass es jeder mitbekommt. Wenn ein Mensch mit SMS sauer ist, dann wütet er mit aller Kraft, die er aufbringen kann.

Ich möchte mehr über dieses sehr seltene Syndrom erzählen. Ich möchte, dass sich Eltern an ihre Ärzte wenden können, wenn sie bei ihrem Kind die von mir beschriebenen Symptome erkennen, und nicht genauso verzweifeln wie wir. Ich möchte, dass man unsere Kinder akzeptiert, dass „behindert“ kein Schimpfwort ist und dass diese Erkrankung einen Bekanntheitsgrad erreicht und so vielleicht vielen Menschen geholfen werden kann.

Infos zur Selbsthilfegruppe Sirius e. V. unter:
www.smith-magenis.de

Fotos: Melanie Stöger, privat Fam. Akay