FASD – Raus aus der Tabuzone
Die Fetale Alkoholspektrumstörung
Eine Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD, Fetal Alcohol Spectrum Disorder) wird durch den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft ausgelöst. Experten schätzen, dass rund 10 000 Babys jedes Jahr mit solchen alkoholbedingten Schäden zur Welt kommen. Ungefähr 2000 davon weisen den höchsten Grad der Schädigung auf: das Fetale Alkoholsyndrom (FAS).
Es handelt sich hierbei um die häufigste Ursache für geistige Behinderungen in der westlichen Welt.
Das Syndrom ist gekennzeichnet durch geistige und körperliche Schäden, Mangelentwicklung und Fehlbildungen. Auch mit der richtigen Unterstützung und Frühförderung ist das Fetale Alkoholsyndrom nicht heilbar, doch kann durch eine richtige Diagnosestellung und Unterstützung den Betroffenen das Leben erleichtert werden.
Gesicht und Kopf des Kindes weisen häufig Anomalien auf. Hierzu gehört beispielsweise ein ungewöhnlich kleiner Schädel, das Herabhängen der Augenlider, ein breiter Augenabstand oder eine zusätzliche Falte über dem inneren Lidwinkel. Auch Minderwuchs oder Fehlbildungen an Gelenken oder am Skelett oder eine Missbildung der inneren Organe können auftreten.
Laut Daten des Robert Koch-Instituts trinken 20 % aller Frauen während der Schwangerschaft Alkohol.
Was viele nicht wissen: Schon kleine Mengen Alkohol während der Schwangerschaft können dem Ungeborenen schaden, denn der Alkohol aus dem mütterlichen Blut kann fast ungefiltert in das Blut des Ungeborenen übergehen. Selbst zehn Gramm Alkohol (was etwa einem kleinen Bier entspricht) können bereits ein Fetales Alkoholsyndrom verursachen.
Es gibt somit keine sichere Menge Alkohol, die während der Schwangerschaft bedenkenlos getrunken werden könnte.
Frau Dr. Landgraf, Sie gelten als Expertin, was Fetale Alkoholspektrumstörungen betrifft.
Erleben Sie schwangere Frauen und Gynäkologen als hinreichend aufklärt, was den Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und seine Folgen betrifft?
Ich bin Kinder- und Jugendärztin, daher kann ich nur aus zweiter Hand berichten, dass sowohl viele Eltern der von mir betreuten Kinder als auch werdende Eltern aus meinem Bekanntenkreis berichten, dass sie durch ihre FrauenärztInnen oder Hebammen nicht ausreichend aufgeklärt wurden oder ihnen sogar gesagt wurde, dass ein Glas Prosecco in Ordnung sei, wenn der Kreislauf während der Schwangerschaft „verrücktspiele“, oder sich ein Glas Wein gut zum Entspannen in der Schwangerschaft eigne.
Wird Alkoholkonsum in der Schwangerschaft von den werdenden Müttern häufig kommuniziert oder eher verschwiegen?
Zu uns in die TESS-Ambulanz (für Risikokinder mit Toxin-Exposition in der Schwangerschaft) des iSPZ Hauner (integriertes Sozialpädiatrisches Zentrum im Dr. von Haunerschen Kinderspital) und in das Deutsche FASD Kompetenzzentrum Bayern kommen meistens Eltern, deren Kinder bereits Auffälligkeiten in der Entwicklung, in der Kognition und/oder im Verhalten zeigen. Einige dieser Eltern berichten sehr offen über ihren Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und ihre Sorgen um ihr Kind, z. B. wenn sie nicht wussten, dass die Frau schwanger war. Andere Eltern benötigen eine längere Zeit, um ein Vertrauensverhältnis mit uns aufzubauen, bevor sie ihre Hemmung überwinden können, um von möglichen Schwierigkeiten in der Schwangerschaft zu reden.
Erleben Sie Wut gegenüber Müttern, die während der Schwangerschaft Alkohol konsumieren?
Nein, in keinster Weise. In Deutschland haben wir eine alkoholpermissive Gesellschaft. Alkohol ist die billigste, am besten verfügbare und am meisten gebrauchte Droge – und gehört kulturell zu allen Festivitäten dazu. Daraus resultiert, dass das Thema Alkohol in der Schwangerschaft nicht das Problem einzelner Frauen ist, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe.
Warum gestaltet sich die Diagnostik von FASD-Störungen als so schwierig?
FASD ist ein Oberbegriff für mehrere Spektrumstörungen: das Fetale Alkoholsyndrom mit einer Wachstumsstörung der Kinder und Auffälligkeiten des Gesichtes sowie das partielle Fetale Alkoholsyndrom und die alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung, bei denen die Kinder weniger oder gar keine äußerlichen Auffälligkeiten aufweisen. Kinder mit FASD können also auch eine „unsichtbare“ Behinderung aufweisen und werden daher oft spät, nicht oder falsch diagnostiziert.
Alle Spektrumstörungen beinhalten funktionelle oder strukturelle Auffälligkeiten des zentralen Nervensystems. Dabei haben Kinder und Jugendliche mit FASD jedoch kein einheitliches neuropsychologisches Profil. Das bedeutet, dass sie zwar alle an einer alkoholtoxischen Gehirnschädigung leiden, aber Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Gehirnfunktionen haben. Daraus folgt, dass für die Diagnose einer FASD eine ausführliche und FASD-erfahrene ärztlich-neurologische und psychologische Diagnostik erfolgen muss.
Trotz der Aufwendigkeit der Diagnosestellung FASD ist diese sehr wichtig, da dadurch ein Krankheitskonzept entsteht. Dieses führt zu einer Erwartungsänderung der Umwelt und dadurch zu einer Verbesserung der Förderung und zur Vermeidung von Frustrationserfahrungen des Kindes und der Bezugspersonen.
Frau Dr. med. Landgraf ist Psychologin, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderneurologin, Oberärztin und leitet die Ambulanz für Risikokinder mit Toxin-Exposition in der Schwangerschaft im LMU Zentrum für Entwicklung und komplex chronisch kranke Kinder in München.
Quellen: wikipedia.de, fasd-deutschland.de, kinderaerzte-im-netz.de, aerzteblatt.de, netdoktor.de
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