Finjas Welt – anders als gedacht

Finjas Welt – anders als gedacht

Heiligabend. Ich sitze mit dem positiven Schwangerschaftstest auf dem Bett. Meine Hände zittern. Freude und zugleich Panik. Ihre Schwester wäre nur 16 Monate älter. Ein Wiedereinstieg ins Arbeitsleben wäre erst einmal kein Thema mehr. Zwei kleine Kinder, die gefühlt wie Zwillinge sind. Ein totales Gefühlschaos. Abtreibung war für uns damals keine Option. So beschlossen mein Mann und ich spontan, das für uns größte Weihnachtsgeschenk am selbigen Abend zu verkünden. Noch stand ich selber unter Schock, wie ich rückblickend sagen kann.
In den ersten Tagen und Wochen verfolgten mich nicht immer nur gute Gefühle. Ich wollte ganz und gar hinter der Schwangerschaft stehen, konnte es aber nicht. Immer wieder waren da Ängste, die ich aus meiner ersten Schwangerschaft nicht kannte. Behinderung war auch ein Thema. Ich versuchte mich immer wieder zu beruhigen. Warum sollte es uns gerade passieren?

Diese Schwangerschaft verlief komplett anders als die erste. Zum Anfang plagten mich Blutungen, später Übelkeit. Sehr schnell spürte ich sehr starke Kindsbewegungen. Die Ärzte und auch meine Hebamme versuchten, mich zu besänftigen. Doch fiel es mir schwer, zu glauben, unser Hauskauf und Umzugsstress seien schuld. So sehr freute ich mich auf unser zweites kleines Mädchen. Malte mir aus, wie es mit seiner Schwester toben würde und wie sehr sich die beiden lieben würden. Auf der Suche nach dem richtigen Namen verbrachten mein Mann und ich etliche Abende vor dem Computer, keiner gefiel uns. Ich erinnere mich noch genau an meine Vorstellung von unserer zweiten Tochter – und wie ich meinem Mann davon erzählte. Sie würde anders sein. Besonders. Vielleicht rothaarig mit vielen Sommersprossen? Knapp drei Monate vor der Geburt fanden wir den Namen: Finja.

Die letzten Wochen vor der Geburt waren für mich sehr anstrengend. Jede Bewegung tat mir weh. So sehr, dass ich das Gefühl hatte, man müsse sie jetzt sofort auf die Welt holen. Der Umzugsstress war schuld. Redete ich mir ein und alle anderen auch. Durchhalten, bald ist es vorbei.
Endlich war es endlich. Die Wehen setzten ein. Schnell relativ stark und regelmäßig. Wir fuhren ins Krankenhaus. Zwei Tage vergingen und es ging nur langsam voran. Auch am dritten Tag änderte sich nicht viel. Erschöpft lies ich mir eine PDA legen, ohne Erfolg.

Plötzlich ging alles sehr schnell: Notkaiserschnitt – und schon 15 Minuten später erblickte unsere Tochter das Licht der Welt. Müde, kraftlos und wenig euphorisch versuchte ich – mit Finja auf der Brust – das Erlebte zu verstehen. Dass sie nun da war und alles gut zu sein schien. Nach zwei Nächten entließ ich mich – und der Alltag hatte mich schnell zurück. Immer wieder fragte ich meinen Mann, ob er nicht auch der Meinung war, dass Finja sich manchmal komisch verhielt. Er beruhigte mich immer und immer wieder.

Nach einem Monat bestätigte sich dann endgültig mein Gefühl. Unser Mädchen spuckte nach jeder Mahlzeit bis zu 20 Mal. Die ersten noch nicht eindeutigen Anfälle tauchten auf. Mehrere Krankenhausbesuche brachten zunächst kein Ergebnis. Im Gegenteil. Man nahm mich nicht ernst. So wie die meisten aus meinem Umfeld. Ein Klinikwechsel brachte ein wenig Licht ins Dunkle.
Finja litt unter einem starken Reflux. Die Ärzte in Oldenburg reagierten sofort, und mit angedickter Milch schien das Problem gelöst zu sein. Hoffnung kam auf, dass dies der Grund für die Anfälle war. Doch ihr Verhalten schien für mich oft nicht normal. Das Wort „Ticks“ fiel immer häufiger. Ihr „Handtick“ wurde extremer. Mein Mann und ich saßen Stunden vor dem Computer und googelten. „Handtick“, „unauffälliges EEG“, „epileptische Anfälle“. Ganz oben auf der Liste stand das Rett-Syndrom. Die Ärzte waren der Ansicht, dass Finja sich dafür zu gut dafür entwickelte. Im Alter von fünf Monaten verringerten sich ihre Anfälle so stark, dass sie keine Medikamente mehr benötigte. Damit fiel die Diagnose: CDKL5 (atypisches Rett-Syndrom).
Für einen Moment blieb unsere Welt stehen. Die darauf folgende Nacht verbrachten wir voller Verlustängste, Wut und Trauer. Wir hofften, dass am nächsten Tag alles wieder gut sein würde. In dieser Nacht musste ich mich von dem Traum einer normalen Familie verabschieden. Meine Gedanken befassten sich damit, ob Normalität mit Glück gleichzusetzen ist.
Für uns ist es das definitiv nicht. Finja ist heute fast zweieinhalb Jahre alt. Sie braucht rund um die Uhr Betreuung, kann nichts alleine machen: nicht sitzen, nicht alleine essen, nicht reden oder laufen. Die epileptischen Anfälle kommen täglich – außer ein paar Pausen, die Stunden, aber auch Wochen dauern können. In diesen Zeiten atmen wir tief durch. Genießen die Ruhe vor dem nächsten Sturm. Denn die Anfälle kommen zurück und bleiben – keiner weiß, wie. Klar ist nur, dass die therapieresistente Epilepsie dazu gehört. Wir haben sie akzeptiert.

Unseren Alltag fanden wir nach der Diagnose relativ schnell. Einen Alltag, der eigentlich kein Alltag ist. Im Voraus zu planen, ist nicht möglich. Jeder Tag birgt Überraschungen und wir gucken, wie wir ihn am besten gestalten können. Durch Finja ist unser Leben spontaner geworden, trotz vieler Rituale und einer guten Tagesstruktur. Therapien und Förderung gehören zum täglichen Programm. Die Prioritäten sind neu gesetzt. Viele Dinge, die uns damals wichtig erschienen, haben an Bedeutung verloren. Einige Menschen, die damals in unserem Leben eine Rolle spielten, haben uns den Rücken zugekehrt. Neue Bekannte, die wir ohne Finja nicht kennen gelernt hätten, sind zu Freunden geworden. Durch sie haben wir gelernt, dass nichts von Dauer ist, alles sich immer verändern kann. Zum Guten, aber auch zum Schlechten.

So war es auch mit Finjas Lächeln. Sie verlor es damals von jetzt auf gleich. Mit zwei Jahren kam es für einige Zeit zurück – und verschwand wieder. Solche Momente sind unvergesslich. Finjas Schwester Mila kommentiert oft: „Mama, gucke mal, Finja freut sich.“ Und tatsächlich, ihre Mundwinkel verändern sich, und ihre Augen sind groß und aufgeweckt. Finja lächelt auf ihre Art und Weise.

Wir leben im Hier und Jetzt, genießen den Moment und versuchen, uns nicht andauernd mit den kommenden Herausforderungen zu beschäftigen. Denn es kommt sowieso anders als gedacht.

Ein Beitrag von Janine Schnelte

Was ist CDKL5?

CDKL5 ist eine seltene Genmutation, die bis vor kurzem dem RETT-Syndrom zugeordnet wurde und daher auch noch den Beinamen „Atypisches RETT-Syndrom“ hat. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen aber, dass es eine ganz eigene Erkrankung ist. Aufgrund verschiedenartigster Mutationen wird das Cyclin-Dependent-Kinase-like-5 Protein wird bei dieser Erkrankung nicht korrekt gebildet. Da es als Enzym entscheidend an der Hirnreifung beteiligt ist, verläuft diese nicht regelgerecht. Das Wachstum und die richtige Vernetzung von Nervenzellen im Gehirn bleiben weitestgehend aus. Kennzeichnend für die CDKL5-Genmutation sind eine in den ersten drei Monaten beginnende therapieschwierige Epilepsie, eine ausgeprägte Hypotonie (Muskelschwäche) und insgesamt eine globale psychomotorische Entwicklungsverzögerung. Die zumeist betroffenen Mädchen erlernen i. d. R. nie das Sprechen, Laufen und den sinnvollen Gebrauch der Hände, das heißt alle Funktionen, die, evolutionär betrachtet, erst spät zum menschlichen Repertoire hinzukamen. Diese Funktionen versucht man mittels Förderung wie Physiotherapie, Logopädie, Hippotherapie und weiteren therapeutischen Maßnahmen aufzubauen. Ein „normaler“ Zustand wird hierbei jedoch niemals erreicht. Die Betroffenen benötigen stets eine lebenslange Hilfe und entsprechende Förderung.
www.cdkl5.de

Infotext: Claudia Schröder-Josifovic

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