Justin – Zurück ins Leben. Das Tagebuch einer Mutter

Das Tagebuch einer Mutter

 

Tagebucheintrag: Tag 3 (29.09.)

Lieber Justin,
ich sitze hier an deinem Bett auf der Intensivstation und versuche, dir einige Dinge aufzuschreiben, an die du dich bestimmt nicht erinnern kannst. Ich fange einfach mal ganz von vorne an mit dem Tag, als du diesen Motorradunfall hattest. Das war vor drei Tagen …

Mittlerweile sind drei Jahre vergangen, doch wenn ich diese Tagebucheintragungen jetzt wieder lese, sehe ich alles nochmal vor mir.

Ich habe mit dem Tagebuch begonnen, um die ganze Situation selber besser zu verarbeiten und vielleicht später mal meinem Jungen zu zeigen, was für ein Kämpfer er ist.
Wir sind eine glückliche Familie mit zwei sportlichen Söhnen, Hund, Haus und wohnen in einem sehr schönen Örtchen im Sauerland. Und das Schicksal schlug bei uns zu.

Es war der 27. September 2016, als Justin mit 16 Jahren mit seinem Motorrad (125er) zur Schule losfuhr und dort nicht ankam. Verabredet war immer, egal wohin, du meldest dich, wenn du da bist. Diesen Morgen kam kein Anruf. Durch Zufall hatte man uns informiert, dass es einen Unfall auf der Landstraße zur Schule gab. Wir fuhren sofort dorthin und hatten die Gewissheit, dass unser Sohn verunglückt war. Mit dem Rettungshubschrauber wurde Justin in eine Poliklinik nach Köln geflogen und dort acht Stunden operiert.

Die Diagnose: Querschnittslähmung, Rippenbrüche, Schulterblatt zertrümmert, Schlüsselbein gebrochen, die Lunge war beschädigt und etliche Schürfwunden …

Natürlich war das ein Schock zu wissen, dass sein Sohn nicht mehr laufen kann, seine geliebten Sportarten in weite Ferne rückten, und für uns stellte sich die große Frage: Wie gehen wir und ganz besonders Justin selbst damit um? Als Erstes teilten wir uns als Familie auf. Ich blieb in Köln und mein Mann versorgte und managte neben der Arbeit und unserem anderen Sohn alles zuhause. Sooft es möglich war, waren wir zu zweit im Krankenhaus. Das war ein großer Spagat für uns als Familie und noch heute bin ich allen dankbar, die uns den Rücken freigehalten haben. Wir spannten Omas und Opas, Geschwister und Freunde ein, um beide nur für Justin da zu sein und zu planen, wie das alles weitergehen soll.
Doch für lange Überlegungen blieb uns überhaupt keine Zeit. Justin musste wieder operiert werden, da einige Schrauben nicht korrekt saßen, das waren wieder fünf Stunden. Er bekam etliche Bluttransfusionen, musste mehrmals beatmet werden. Ich saß 15 bis 18 Stunden an seinem Bett, hilflos, aber immer mit dem festen Glauben daran, dass er es schafft. Nach kräfteraubenden zwei Wochen wurde er dann nach Bochum verlegt und eigentlich dachten wir, jetzt geht es bergauf. Mittlerweile wusste Justin auch schon, dass er eine schwere Rückenverletzung hat und er wohl nicht mehr laufen wird. Doch leider trog der Schein. Justin bekam eine Lungenentzündung, der Körper arbeitete durch den Querschnitt nicht so, wie er sollte. Hohes Fieber, Erbrechen, eine weitere OP hatten zur Folge, dass er an die Lungenersatzmaschine musste und erneut ins Koma. Einen weiteren Plan B wird es nicht geben. Was kann ein Kind mit 16 alles ertragen.

Tagebucheintrag: Tag 21 (17.10.)

Mein lieber Schatz, kämpfe … Kämpfe für dich. Wir sind beide da. Gib nicht auf.

Ich habe sehr große Angst um dich, aber ich weiß, wie sehr du das Leben liebst.
Bei uns brach alles ein. Zu sehen, wie das eigene Kind ums Überleben kämpft, nichts tun zu können, dazustehen und auf die Worte der Mediziner zu vertrauen, ist in so einer Situation sehr, sehr schwer. Mein Mann und ich versuchten, uns gegenseitig Halt und Unterstützung zu geben, wechselten uns im Krankenhaus ab und gaben die Hoffnung nicht auf. Psychologisch wurden wir betreut, obwohl man sich in so einer Situation ganz andere Gedanken macht, und nicht immer habe ich dem Gespräch richtig zugehört. Mittlerweile waren acht Tage an der Lungenersatzmaschine vergangen und der Zustand war mal gut, mal wieder schlechter. Doch Justin kämpfte weiter und endlich konnten die Medikamente runtergefahren werden, so dass er ganz langsam wieder wach wurde. Wir verständigten uns mit Handzeichen, weil nichts anderes möglich war. Endlich ein Lichtblick.

Und dann, nach 14 Tagen, konnte man die Lungenersatzmaschine entfernen. Ich glaube, es war ein Felsbrocken, der von uns abgefallen ist. Doch sollte man schon so euphorisch sein? Immer wieder hatte es Rückschläge gegeben. Egal, es zählte nur dieser eine Moment. Nur, wie befürchtet, nicht lange. Krampfanfälle, Herzschlag, Blutdruck, hohes Fieber und Atemfrequenz viel zu hoch, daher erst mal wieder ins Koma. Da war es, das Tief hatte uns erreicht. Wann würde es aufhören? Wann kommen die guten Tage?

Irgendwann zweifelt man an allem, an sich, der Welt, dem Leben … Hatte man sowas verdient? Hatte Justin das verdient? Das große Warum machte einen verrückt.

Doch solange unser Kind nicht aufgibt, machen wir das auch nicht. Also ging es weiter. Wir besorgten Kopfhörer, damit Justin im Koma Musik hören konnte, ich las ihm Bücher vor, sang mit bei bestimmten Liedern und wir sprachen mit ihm, als wäre er wach. Ganz langsam verbesserte sich der Zustand und die Medikamente wurden runtergefahren. Justin wurde wach. Zwar mit Entzugserscheinungen und sehr müde, aber er war ansprechbar.

Eintrag aus dem Tagebuch: Tag 48 (13.11.)

Deine Medikamente haben angeschlagen, du bist noch sehr erschöpft und müde, aber es soll in den nächsten Tagen besser werden. Du hast uns wissen lassen, dass du gesund werden willst. Dein Daumen war hoch.

Vier Tage später konnte unser Sohn das erste Mal nach so langer Zeit ein paar Worte mit uns sprechen. Nach fast zwei Monaten endlich seine Stimme wieder zu hören, war unbeschreiblich. Und es ging wirklich bergauf. Zwar immer nur ganz kleine Fortschritte, aber er wollte wieder leben. Ergo- und Physiotherapien taten ihm gut und so konnte er schon bald das erste Mal mit viel Hilfe ein Eis essen, danach schon ein paar Minuten im Rollstuhl sitzen.

Justins Motto zu dieser Zeit: Geht nicht, gibt´s nicht und Aufgeben ist keine Option. Und auch heute lebt er noch danach.

Irgendwann kam er ganz alleine zurecht und ich habe meine Zelte in der Klinik abgebrochen. Loslassen fiel mir sehr schwer, aber für ihn und die Familie war es das Beste. Seinen Krankenhausalltag meisterte er alleine, Ostern durfte er endlich nach Hause kommen. Sieben Monate im Krankenhaus, doch er wusste ganz genau was er wollte: sein Abitur machen und dann Medizin studieren. Und was soll ich sagen, genau das macht er. Seine alte Schule, das Gymnasium Maria Königin, hat ihn aufgefangen, die Lehrer und Lehrerinnen haben ihn in allem unterstützt (dafür sind wir sehr dankbar), seine neuen und alten Schulkameraden waren an seiner Seite und auch hat er eine tolle Freundin gefunden. Er studiert nun in Bochum, im Rollstuhl, Medizin. Hat seine eigene Wohnung, spielt Tennis, hat Biathlon ausprobiert, seinen Führerschein gemacht, möchte so gerne mal tauchen und ist mit sich selber zufrieden. Klar hatte er mal ein Tief, da einige Sachen ja nicht mehr so gehen, wie es vor dem Unfall war, aber auch das ging vorbei.

Letzter Tagebucheintrag:

Lieber Justin,

manche Schicksale lassen sich nicht erklären. Es gibt auch keine Antworten auf so viele Fragen. Für uns bist du ein Held, ein Kämpfer und der mutigste Mensch, den wir kennen. Wir sind mit dir einen langen Weg gegangen, immer wieder aufgestanden, wenn man uns nur eine geringe Hoffnung gab. Diese vielen Monate haben uns verändert, wir sehen vieles mit anderen Augen. Wir können das Geschehene nicht rückgängig machen oder dir dein Schicksal abnehmen. Aber wir können da sein, wann immer du uns brauchst.

 

 

 

Fotos: Privat Familie Blum