Mehrgenerationenhäuser – wohlfühlen fernab vom klassischen Wohnmodell

Die Gründe für einen solchen Entschluss können vielfältig sein: Oma Ursel möchte im Alter nicht alleine wohnen und Familie Bauer wünscht sich weitere Bezugspersonen für ihre kleinen Töchter. Im Gegenzug erledigen sie Einkäufe oder legen den geplanten Gartenteich an. Paul ist auch nach Feierabend noch gerne in Gesellschaft anderer und die gerade in den Ruhestand getretene Christel hat schon immer gerne für viele Menschen gekocht.

In sogenannten Mehrgenerationenhäusern lassen sich Wünsche wie diese umsetzen, denen das klassische Familienmodell nicht gerecht werden kann.


Definition: Unter einem Mehrgenerationenhaus versteht man ein Haus oder eine Wohneinheit, in dem bzw. in der mehrere Generationen aus verschiedenen Familien miteinander wohnen und Bereiche ihres Alltags gemeinsam gestalten.


Auf den ersten Blick erinnern diese Projekte an die herkömmliche Großfamilie, die gemeinsam unter einem Dach lebt. Der bedeutende Unterschied ist jedoch, dass man für sich beim Wohnen in Mehrgenerationenhäusern die Rahmenbedingungen selbst bestimmt und die Menschen aussucht, mit denen man gemeinsam wohnen möchte.

Häufig entstehen Mehrgenerationenhäuser aus im Privatbesitz befindlichen Eigentumswohnungen oder Häusern, die gemeinschaftlich genutzt werden. Dabei kann es viele unterschiedliche Variationen geben: Klassische WGs sind ebenso denkbar wie das gemeinschaftliche Wohnen in mehreren Einzelhäusern oder Wohngruppen. Auch ist es möglich, mit mehreren Personen gemeinsam den Bau eines Hauses mit speziellen Anforderungen zu planen. Oftmals werden Vereine, Genossenschaften oder Wohnungseigentümergemeinschaften zur Umsetzung eines Wohnvorhabens gegründet. Einige Projekte werden aber auch durch Städte oder private Träger individuell unterstützt. Das gemeinschaftliche Wohnen schont außerdem häufig Ressourcen, etwa wenn Funktionsräume wie Küche, Waschküche oder Garten gemeinsam genutzt werden können. Auch das gemeinsame Nutzen von Fahrzeugen, etwa in Form eines Gemeinschaftsautos, kann sich als praktikabel erweisen.

Das passende Mehrgenerationenhaus zu finden, kann eigene Bedürfnisse und Wünsche nochmal präsenter werden lassen: Ist mir ein ökologischer Schwerpunkt wichtig? Inwieweit sind Rückzugsmöglichkeiten umsetzbar? Wie sehr möchte ich mich ins Gemeinschaftsleben einbringen und womit kann ich dieses unterstützen? Wobei benötige ich selbst Hilfe und habe ich gesundheitliche Besonderheiten, die Berücksichtigung finden müssen?

Gegenseitige Unterstützung in sozialverantwortlicher Nachbarschaft – unabhängig vom sozialen Status oder Familienstand – hört sich verlockend an. Das gemeinschaftliche Wohnen erfordert jedoch auch ein gewisses Maß an Anpassungsbereitschaft und konstruktiven Umgang mit entstehenden Konflikten. Wichtige Fragen sind also im Vorfeld ins Visier zu nehmen: Wer kommt für Reparaturen auf? Wie werden die Nebenkosten geteilt? Welche Verhaltensregeln sollen gelten und wie können mögliche Streitereien am besten gelöst werden?

Wo soll man überhaupt mit der Planung anfangen und an welche Stellen kann man sich wenden? Daniela Herr ist diese Wege bereits gegangen und möchte andere Menschen ermutigen, offen gegenüber dieser Wohnform zu sein. Gemeinsam mit 20 anderen Personen bewohnt sie das Mehrgenerationenhaus in der Sredzkistraße 44 im Prenzlauer Berg in Berlin. Der jüngste Bewohner ist gerade vier Jahre alt. Die Altersspanne reicht bis zu Frau Götze, einer 92-jährigen Bewohnerin, deren Türen und Ohren für die Kinder des Hauses immer offen stehen.

Wohnprojekt Sredzkistraße 44:

www.sredzki44.de

„Unser Weg war nicht einfach, aber wir sind froh, ihn gegangen zu sein“, erzählt Frau Herr.

Sie bewohnte das Haus bereits seit über 20 Jahren, als der damalige Hausbesitzer beschloss, umfangreiche Sanierungsmaßnahmen durchführen zu wollen, die massive Nachteile für alle Bewohner bedeutet hätten. Die Bewohner wandten sich an die Mietergenossenschaft SelbstBau e. G., die Interesse daran hatte, das Haus zu kaufen und das geplante Projekt umzusetzen. Die Kernsanierung kostete über zwei Millionen Euro. „Wir hatten sehr viel Glück, dass das Bundesfamilienministerium uns unterstützte“, betont Daniela Herr. Es sollte ein Beispiel dafür geschaffen werden, wie inklusive Mehrgenerationenhäuser gestaltet und umgesetzt werden können. Aus diesem Grund gibt es im unteren Teil des Gebäudes auch ein Informationszentrum, welches Platz für Infoveranstaltungen bietet. Auch eine Musterwohnung ist dort einsehbar. „Wir haben Besuchergruppen aus aller Welt, die sich anschauen wollen, wie wir Inklusion im Mehrgenerationenhaus umsetzen“, sagt Daniela Herr nicht ohne Stolz.

Das Haus verfügt über elf separate Wohneinheiten. Drei dieser Wohnungen sind behindertengerecht umgebaut und alle Wohnungen sind mit einem Fahrstuhl erreichbar. In einer dieser barrierefreien Wohnungen wohnt auch Frau Götze, die aufgrund von Hüftproblemen auf den Rollator angewiesen ist. Die übrigen Wohnungen sind rollstuhlgerecht gestaltet. Hier sind beispielsweise die Türen breiter als üblich, es gibt ein ausreichend großes Badezimmer und eine bodentiefe Dusche. „Wir nehmen Inklusion sehr ernst“, erklärt Frau Herr. Die beiden weiteren behindertengerechten Wohnungen werden von einem Frührentner mit Handicap und einem Rollstuhlfahrer bewohnt.

Fluktuation gibt es unter den Bewohnern im Haus in der Sredzkistraße 44 quasi gar nicht. Hierzu trägt neben dem gemeinschaftlichen Miteinander sicherlich auch der günstige Mietpreis bei. 5,50 Euro pro Quadratmeter zahlen die Altmieter an Kaltmiete, 8,50 Euro die Neumieter. „Im Prenzlauer Berg beträgt die Miete üblicherweise sonst um die 14,00 Euro“, fügt Frau Herr hinzu. Außerdem müssen die Bewohner sich nicht vor einer Kündigung des Wohnraums sorgen.

Das Verhältnis zwischen den Bewohnern ist freundschaftlich und unangespannt. „Wir fühlen uns nicht als zweckmäßige Wohngemeinschaft miteinander verbunden, sondern als Menschen, die zusammengefunden haben“, erzählt Frau Herr. Zweimal im Jahr werden Gemeinschaftstreffen anberaumt, in denen Organisatorisches, Projekte oder Konflikte besprochen werden können.

Im Hinterhof des Gebäudes gibt es einen begrünten Garten. Die Tochter von Frau Herr hält dort Kaninchen. Neben den im Sandkasten spielenden Kindern treffen sich dort insbesondere ältere Bewohner regelmäßig zum gemütlichen Beisammensitzen. Im Sommer wird gegrillt und in den Wintermonaten gemeinsam Glühwein getrunken. Auch eine Garten-AG wurde von einigen Bewohnern, die Freude an Gartenarbeit haben, gegründet.

„Auch Kinder können bei diesem Projekt unbedingt gewinnen“, ist Frau Herr überzeugt. „Meine Tochter hat so viel besser die Möglichkeit, Ängste vor dem Unbekannten zu verlieren und von einer starken Gemeinschaft zu profitieren.“ Ein homosexuelles Pärchen wohnt ebenfalls im Haus. Eines der dort wohnenden Kinder kam mit Trisomie 21 auf die Welt. „Meine Tochter erlebt dies als Normalität. Negative Vorurteile können so kaum entstehen“, erläutert Frau Herr und freut sich darüber, dass ihre Tochter geborgen in dieser Gemeinschaft von Menschen aufwachsen darf, in der der Mensch selbst und seine Bedürfnisse im Vordergrund stehen.

„Wichtig ist es, Mitstreiter zu finden“, rät Frau Herr. In größeren Städten gibt es häufig Stammtischabende, an denen Interessierte zusammenfinden können. „In Berlin empfehle ich beispielsweise die STATTBAU als Ansprechpartner.“ Sie selbst ist froh, dass sie trotz vielfältiger Hürden ihren Elan und ihre Begeisterung für das Projekt nicht verloren hat. „Im Gegenteil“, sagt sie, „die Euphorie wächst eigentlich immer weiter.“

Das Interview führte unsere Redakteurin Mandy Falke

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