Mission Glück
Mission Glück
Am 7. April 2014 waren wir noch werdende Eltern. Die ersten aufregenden Schwangerschaftswochen lagen hinter uns und wir erfreuten uns jeden Tag an dem Abenteuer, das auf uns zukommen würde. Aufregend war es auch deshalb, weil wir nach einem sehr langen Kinderwunsch-Weg nun endlich Mama und Papa werden sollten – und das nicht nur von einem Kind, sondern gleich von Zwillingen. Zwei Jungs würden es wohl werden und wir waren schon relativ weit mit unseren Planungen. Sogar die Namen hatten wir bereits entschieden. Dass wir diese nur einen Tag später schon jemandem nennen würden, davon war an diesem friedlichen Tag noch nichts zu spüren …
Am 8. April 2014 wurden Vincent und Jaron in der SSW 23+6 mit jeweils knapp 640 Gramm viel zu früh ins Leben gerissen!
Meine Frau hatte einen Riss an der Gebärmutter erlitten, welcher zu inneren Blutungen führte – an einer Stelle, die vor einigen Jahren ausgerechnet im Zuge der Kinderwunsch-Planung operiert wurde. Niemand in unserem ortsansässigen Krankenhaus erkannte die Wunde in der Nacht, stattdessen wurde das Stereotyp der übersensiblen, schmerzempfindlichen, internetnervösen Schwangeren bedient. All das gehört normalerweise in einen Bericht über Fehler im Krankenhaus, über menschliches und fachliches Versagen, über das Zwei-Klassen-Gesundheitssystem. Und doch, wäre nicht alles so geschehen, wie es geschehen ist, auch das vermeidlich Falsche, dann wären unsere Jungs wohl heute nicht bei uns. Es lohnt sich oft alle Faktoren einer Situation zu bewerten.
Nachdem meine Frau mit der Fehldiagnose Frühwehen knapp 50 km über Land in einem Rettungswagen in die Uniklinik nach Bonn transportiert worden war, hatte sie bereits zwei Liter Blut im Bauchraum. Die Wunde an der Gebärmutter hätte auf dem Weg in die Frauenklinik der UKB unkontrolliert reißen können. Vincent und Jaron mussten sofort entbunden werden, das Leben meiner Frau war in Gefahr und ich habe es bis heute vor Augen, wie sie die Ärzte anflehte, die Kinder im Bauch zu lassen, wenn es dafür eine Chance geben würde. Auch wenn wir damals fast nur an die Jungs dachten, so ist mir sehr bewusst, dass ich an diesem Tag alles hätte verlieren können, was ich liebe. Oft habe ich mich gefragt, ob der „liebe Gott“ einen Moment gar nicht oder ganz besonders auf uns aufgepasst hat …
Während der Not-OP fühlte ich mich wie der einsamste Mensch der Welt. Nie zuvor musste ich etwas Vergleichbares fühlen, geschweige denn aushalten. Heute weiß ich, dass man vermutlich alles aushalten kann, denn die Welt dreht sich in aller Brutalität weiter, egal was geschieht. Ich irrte auf dem Vorplatz der Frauenklinik umher, erreichte meine Eltern, meinen Schwager und meine Schwiegereltern, die im Urlaub auf der anderen Seite der Welt waren. Ich rief unentwegt Freunde an, um mein Leid, meinen Schmerz und meine Angst zu teilen. Vor allem aber teilte ich eine Hoffnung und so schlimm alles war, so sehr unsere Welt gerade einem Scherbenhaufen glich, ich wollte darauf nicht zum Stehen kommen. Und etwas in mir sagte, es wird alles gut.
14:24 Uhr – Notkaiserschnitt – Geburt von Vincent und Jaron – wir sind Mama und Papa!
Am Abend des 8. April durfte ich dann zu den Jungs. Meine Frau war noch zu benommen. Da standen nun zwei Inkubatoren in dem kleinen Zimmer auf der Neonatologischen Intensivpflegestation (NIPS) und irgendwo in dem Dickicht aus Kabeln, Schläuchen und Monitoren sollten unsere Söhne liegen.
Eine Schwester fragte mich, ob ich die beiden berühren möchte. Ich verneinte zuerst, wollte keine Aufwände machen, wusste nicht, ob das gut ist, hatte vermutlich einfach Angst. Doch sie blieb an mir dran und dafür bin ich bis heute unendlich dankbar. Sie öffnete den Inkubator, nahm meine Hände und führte sie langsam zum Köpfchen und den Füßchen von Vincent – der bis dahin intensivste Gefühlsmoment meines Lebens. Hier lag mein Kind, die größte Liebe meines Lebens … Ich brach in Tränen aus und diese Liebe übermannte alles in mir. Auch Jaron durfte ich berühren und wusste, dass, so unsagbar schlimm alles schien, es doch so wunderschön war.
Tag drei im Familienzimmer der Entbindungsstation war der 10. April und damit auch unser Hochzeitstag. Es war bis hier ein brutaler Weg, denn während in den Zimmern um uns herum die Mütter und Väter das Glück hatten, sich die Nächte mit ihren schreienden Babys herumschlagen zu dürfen, war unser Zimmer weitestgehend stumm. Eine der Szenen des Lebens, in der die Position des Blickwinkels alles ändert … Was hätten wir darum gegeben, vollkommen übermüdet und ausgelaugt unsere Kinder versorgen zu können.
Die ersten Tage waren wie ein Bombeneinschlag und auch wenn wir versuchten, uns Mut zu machen, so fehlten oft die Worte zu beschreiben und zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Noch während des Frühstücks kam einer der Oberärzte ins Zimmer. Viele Informationen, medizinische Fachbegriffe und die Botschaft, dass es den Jungs sehr schlecht geht.
Auch wenn von den nachfolgenden Minuten nur noch Bruchstücke als Erinnerung abgelegt sind, so haben sich diese Minuten für immer in unsere Seele eingebrannt. Wir wurden ins Elternzimmer gebeten, der Chefarzt erläuterte uns die Lage: Sehr schlechte Vitalwerte, zweitgradige Hirnblutung bei Jaron, drittgradige Hirnblutung und dazu der Verdacht auf einen Hirninfarkt bei Vincent. All das konnten wir in der Dramatik nicht wirklich einschätzen, aber die abschließende Frage, die haben wir bis heute nicht vergessen: „Wollen Sie die Kinder nottaufen?“
Wenngleich ich damals einen ernsthaften Streitmonolog mit dem „lieben Gott“ vom Zaun brach und ihm sehr unmissverständlich klarmachte, dass, wenn er uns das heute an unserem Hochzeitstag antut, wir echte Probleme bekommen. So ist der schlimmste Moment unseres Lebens heute auch gleichzeitig der Null- und Wendepunkt unseres Wertesystems. Wir würden ihn sicherlich auch als Grundpfeiler sehen, das Leben so anzunehmen, wie wir es heute tun.
Heute ist es 4,5 Jahre später und wir haben einen sehr intensiven, übernächtigten, anstrengenden, aber vor allem glücklichen Weg hinter uns.
Jaron ist kerngesund und die kleinen Dinge, in denen er noch seinen Weg entwicklungstechnischer Feinheiten gehen muss, machen uns keine Sorgen. Was er manchmal nicht in den Beinen, Armen oder dem Gleichgewichtssinn hat, macht er mit vielen großen Worten wett.
Vincent kann heute weder sprechen, sitzen, stehen, krabbeln noch laufen. Er ist geistig behindert, hat eine Schluckstörung, Augenschädigung, Krampfanfälle, leichte Spastiken, braucht für alles unsere Hilfe und hat einen geschädigten Bereich in der linken Gehirnhälfte, der wirklich groß ist und keinen Platz für romantische Fantasien bietet, dass das alles mal „rauswächst“.
Trotz aller Diagnosen, die in Arztbriefen etc. stehen, ist Vincent aber in erster Linie ein sonniger, aufgeweckter, wacher, motivierter und immer aktiver kleiner Kerl. Er lacht seine Welt an und sein Schicksal weg. Er kommuniziert auf seine Weise, sucht sich seine eigenen Wege mit dem Rollbrett und freut sich unbändig auf seinen Rollstuhl mit Einhandantrieb. Er legt Tempo und Prioritäten selber vor – in seinem Wertesystem.
All das ist das Leben. Es passiert einfach, auch wenn wir einen anderen Plan hatten. Es ist jetzt unsere Aufgabe, diesen Weg zu akzeptieren und nicht mehr der Wegbeschreibung nachzuweinen, die wir einmal für uns auf dem Reißbrett entworfen hatten. Ich weiß, dass es vielen Eltern mit ähnlichen Geschichten nicht so einfach fällt, Trauer und Trauma hinter sich zu lassen, aber ich bin der festen Überzeugung, dass nur der Blick nach vorne, Mut und Hoffnung die oft unerträglichen Lebensmomente besser machen können.
Nur wenn man selber stark ist, kann man auch stark für andere sein. Die Achtsamkeit darf nicht nur dem vermeidlich kranken Kind gelten, sie muss auch für einen selbst, für den Partner und in unserem Falle vor allen Dingen auch Jaron gelten, denn auch er hat ein Anrecht auf starke Eltern.
Immer dann, wenn die Kraft nicht mehr ausreicht, wenn es keinen Ausweg zu geben scheint, immer dann erinnere ich mich daran, wie sehr Vincent und Jaron um ihr Leben gekämpft haben. Ich erinnere mich daran, wie viel Glück uns geschenkt wurde, dass wir diese Intensität von Gefühlen erleben dürfen, auch wenn diese nicht immer sonniger Natur sind, aber sie erinnern uns daran, worauf es im Leben wirklich ankommt – auf die Liebe!
Wir haben es in der Hand, ob wir die Zügel des Lebens weiter selber führen und auch welche Richtung wir einschlagen. Eine Diagnose ist kein Gradmesser für Lebensglück, denn echte Lebensqualität liegt im Auge des Betrachters.