Und sie spricht doch …

Und sie spricht doch …

 

Als Lea (6) ungefähr neun Monate alt war, bekamen wir die niederschmetternde Diagnose einer Hirnfehlbildung (Polymikrogyrie) und eines DiGeorge-Syndroms (Mikrodeletion 22q11). Wir waren wie vor den Kopf gestoßen. Niemand konnte uns Antworten auf unsere Fragen geben. Was heißt das? Wird Lea ein glückliches Mädchen werden? Wird sie stehen? Wird sie laufen? Wird sie sprechen?

Sie wird! Wenn auch anders als andere Kinder, nämlich mit Hilfsmitteln und nicht zur erwarteten Zeit, aber sie wird!

Wir haben in den letzten fünf Jahren viel erlebt und noch mehr hinzugelernt. Vor allem haben wir gelernt, dass unser Kind sein eigenes Tempo hat, seine eigenen Wege findet und finden wird, sich zu bewegen, zu kommunizieren und die eigenen Bedürfnisse mitzuteilen. Sie ist fröhlich, clever, ausgeglichen und hat einen starken Willen. Alle Bezugspersonen lernen früher oder später ihre Körpersprache zu deuten und finden Mittel und Wege, ihr die Wünsche von den Augen abzulesen, und das, obwohl Lea mit ihren sechs Jahren nicht ein Wort spricht. Lea spricht mit ihren Händen, mit ihrem ganzen Körper, mit ihrem iPad, mit Bildern, mit Lauten und eben manchmal auch mit Wimperklimpern. 😉

Bis wir da standen, wo wir jetzt sind, haben wir bereits einiges ausprobiert, verworfen, entdeckt und gelernt. Am Anfang war es ein Rätselraten herauszufinden, was Lea wirklich möchte oder nicht, was sie gut findet und was nicht, was sie braucht, woran sie denkt. Dass sie Durst hatte, erkannte man erst, als sie gierig an der Flasche saugte. Sie konnte es uns nicht sagen. Die Motorik war so eingeschränkt: keine Gebärden, kein Nicken, kein Kopfschütteln, kein Zeigen. Für alle Beteiligten war das frustrierend.

Seitdem Lea ein Jahr alt ist, geht sie in eine Fördereinrichtung für Kinder mit Zerebralparese. Dort haben wir erste Erfahrungen mit Symbolkarten, Metacom (eine speziell für Kinder gestaltetet Symbolsammlung) und GuK (Gebärden-unterstützte Kommunikation) gemacht. Daraufhin begannen wir damit, Lea mit Hilfe unterstützter Kommunikation zu fördern.

Am Anfang entschieden wir uns für wenige situationsspezifische Symbole, die wir immer wieder in den entsprechenden Situationen aufgriffen, indem wir die Symbolkarten zeigten und zusätzlich die entsprechenden Gebärden lernten und anwendeten.

Wir lernten die Grundlagen des Modellings. Hierbei geht es darum, dem Kind die Kommunikation mit den neuen Medien so oft wie möglich vorzuleben. Also mussten wir mit ihr genauso kommunizieren, wie wir es von ihr erwarteten.

Leas erstes Hilfsmittel war ein selbsterstelltes Ich-Buch. Mit Hilfe von diesem konnten wir tolle kommunikative Situationen schaffen, bei denen sich neue Bezugspersonen mit Lea unterhalten konnten. Lea identifizierte sich schnell mit den Berichten und Geschichten im Buch. Dort hielten wir fest, wer Lea ist, wer zur Familie gehört, was sie mag, was nicht, was sie schon kann und wobei sie welche Unterstützung braucht. Dadurch war es z.B. für Therapeuten oder Betreuer ein idealer Einstieg und erleichterte das Kennenlernen ungemein. Außerdem haben wir festgestellt, dass die Leute durch das Buch anfingen, mit Lea zu reden, anstatt uns zu fragen.

Mit Hilfe von Tastern mit Sprachausgabe konnte Lea einfache Aussagen machen und beginnen, ihre Umwelt zu steuern. Im Kita-Alltag wurden sie genutzt, um von Erlebnissen zu berichten. Dazu haben wir Eltern oder die Betreuer die Erlebnisse draufgesprochen und Lea konnte durch das Drücken der Taster die Nachrichten abspielen.

Außerdem hatten wir zu Hause diverse Taster verteilt, um „ja“, „nein“, „nochmal“, „fertig“, „Tschüss!“ oder „Hallo!“ sagen zu können. Mit einem Taster in der Küche z.B. kann Papa zum Abendessen gerufen werden.

Schnell war Lea über die „Taster-Phase“ hinaus, so dass wir ein gebrauchtes iPad kauften und die App „GoTalk Now“ draufspielten. Mit dieser App konnten wir Lea ein komplettes Kommunikationsbuch erstellen. Wir haben individuelle Seitensets erstellt, mit deren Hilfe Lea z.B. beim Essen aussuchen kann, was sie auf dem Brot haben will, beim Spazierengehen entscheiden kann, wo es langgeht, oder ob Papa beim Geschichtenlesen eine Seite vorblättern oder das ganze Buch noch einmal lesen soll. Diese App nutz Lea nun seit zwei Jahren. Jetzt, im letzten Kindergartenjahr, werden wir ein passendes System für den bevorstehenden Schuleintritt suchen.

Schwierigkeiten gibt es immer wieder durch Leas motorische Einschränkungen. Bis sie es geschafft hat, das Tablet gezielt mit einem Finger zu bedienen, hat es mehrere Monate und viele Fingerübungen gebraucht. In den verschiedensten Situationen, z.B. beim Essen, im Kinderwagen, im Rolli, wenn sie liegt, müssen wir dafür sorgen, dass das iPad für sie erreichbar ist, denn selber kann sie es nicht festhalten oder tragen.

In bestimmten Situationen (z.B. beim Schwimmen) ist das Tablet nicht verfügbar. Da mussten wir uns Alternativen überlegen. Der einfachste, aber effektivste Weg herauszufinden, was Lea sagen möchte, ist es, eine Auswahl zwischen zwei Optionen zu bieten und ihr für jede von diesen eine Hand hinzuhalten. Sie tippt dann auf die entsprechende Hand, wenn es das ist, was sie sagen wollte. „Möchtest du essen (linke Hand) oder trinken (rechte Hand)?“, „Willst du spazieren gehen (linke Hand) oder etwas anderes machen (rechte Hand)?“

Mit den wachsenden Möglichkeiten sich auszudrücken ist Leas Freude am Kommunizieren immer größer geworden. Sie versteht es mittlerweile schon sehr gut, Menschen für sich zu gewinnen, kann albern sein oder auch sagen, dass sie traurig ist.

Viele Menschen haben die Sorge, dass die Entwicklung der Lautsprache durch die Verwendung von unterstützter Kommunikation unterdrückt wird. Dass dies nicht so ist, erfahren wir gerade selbst. Obwohl Lea so viele verschiedene Mittel und Wege zu kommunizieren kennt, entwickelt sich ihre Lautsprache weiter. Sie versucht sich bewusster, genauer und stärker mit Lauten zu verständigen. Und wer weiß, vielleicht wird sie in ein paar Jahren ja doch einmal „Mama“ oder „Papa“ mit ihrer ganz eigenen Stimme sagen.