Eine Weihnachtsgeschichte in Ecuador

Eine Weihnachtsgeschichte in Ecuador

Juanito, kleiner Hans, wie ihn alle rufen, lebt am Rande von Quito, der Hauptstadt Ecuadors. Erst zehn Jahre alt, arbeitet er schon als Schuhputzer und hilft mit dem verdienten Geld seiner Familie.

Am Tag des Heiligen Abends fährt er morgens mit dem Bus in die Innenstadt. Den Holzkasten mit dem Schuhputzzeug hält er fest unter seinem Arm. Er hofft auf ein gutes Geschäft, denn er möchte bunte Zuckersachen für das heutige Fest kaufen.

Durch die Straßen schlendernd, sieht Juanito den Leuten auf die Schuhe und spricht sie freundlich an. Auch in den Cafés bietet er seine Dienste an. Da Juanito viele Schuhe putzt, bekommt er reichlich Trinkgeld. Bevor er in den Bus steigt, sucht er Süßigkeiten für den Abend aus. Gut gelaunt fährt er bis zum Markt, auf dem die Mutter und seine Schwester Dolores Sachen verkaufen. Gemeinsam bringen sie die unverkaufte Ware nach Hause. Während die Mutter einige Bündel zusammenpackt, versorgt Dolores die kleine Schwester und bindet sie mit dem Tragetuch auf ihren Rücken.

Kaum sind sie fertig, hupt es draußen. Es ist das Lastauto, das sie zu Vater bringen soll. Auf der hinteren Ladefläche stehen Leute, die auch keine andere Fahrmöglichkeit haben. Der Wagen fährt aus der Stadt hinaus in ländliches Gebiet. Ab und zu hält das Auto und Leute steigen aus.

Eine Frau fragt Mutter, wohin es geht. Sie erzählt stolz: „Mein Mann hat jetzt Arbeit. Er hilft beim Verkauf in einem Laden am Äquatorstein. Morgen zum Feiertag werden sicher viele Besucher kommen. Wir wollen dort Weihnachten feiern.“

Fast ohne Übergang wird es dunkel. Sie sind etwa zwanzig Kilometer weit gefahren, als das Auto für sie hält. Der Vater kommt ihnen mit einer Lampe entgegen, führt die Familie in einen kleinen Laden und sagt, dass sie hier schlafen würden. Danach geht er mit den großen Kindern nach draußen, zeigt auf eine markierte Linie am Boden und erklärt: „Das ist der Äquator, der unsere Erdkugel in eine nördliche und eine südliche Hälfte trennt.“

Darauf beleuchtet er das Denkmal. „Und dieser Stein soll erinnern, dass unser Land Ecuador nach dem Äquator benannt wurde.“

Juanito stellt sich über die Linie am Boden, sodass er mit einem Bein in der nördlichen und mit dem anderen in der südlichen Erdhälfte steht. Da lacht der Vater und sagt: „Genau so lassen sich hier die Touristen fotografieren.“

Als sie zurück in den Laden kommen, hat die Mutter das Baby versorgt und auf dem Boden die Schlafmatten verteilt. Sie unterhält sich mit einer Frau und zwei Männern, die auch hier in der Einsamkeit übernachten werden. Gemeinsam wollen sie den Heiligen Abend mit einem Mahl feiern.

Während Mutter die „Salchichas“, die kleinen Würstchen, Reis und Mais aus dem Bündel holt, sieht Juanito sich im Laden um. Da sind Ständer mit Postkarten, kleine Andenken aus Stein und Holz, Lederwaren, schön gewebte Decken, Ponchos und vieles mehr. Erst als ihm Essensgerüche in der Nase kitzeln, bemerkt er seinen großen Hunger und geht zu den anderen.

Der Nebenraum ist mit Kerzen erhellt. Eine Krippe ist aufgebaut. Neben sie legt Juanito die gekauften Süßigkeiten. Als er sie mit großer Geste anbietet, freuen sich alle, und Juanito lächelt stolz. Jetzt hat er Zeit, die Krippe genau zu betrachten: Im Hintergrund steht ein gemaltes Bild von Bethlehem, davor liegt das Christkind in einem aufgeschütteten Sandbettchen. Kleine Zweige stecken ringsherum im Sand. Das sollen Bäume sein. Eine Spiegelscherbe an der Seite soll einen See darstellen. Die Figuren sind Kinder in Landestrachten, ein Esel, Hirten, Maria, Josef und das Christkind. Sie sind aus Salzteig gebacken und farbig angemalt.

Nach dem Essen spielen die Männer auf ihren Flöten Weihnachtslieder, die Frauen und Kinder singen dazu. Auch Juanito versucht, auf Vaters Flöte zu spielen. Es klingt schon ganz gut. Da geht der ältere Mann nach draußen und kommt mit einer zweiten Flöte zurück. Er gibt sie Juanito und sagt: „Die schenke ich dir.“

Freudig überrascht bedankt sich Juanito. Eine eigene Flöte hat er sich schon lange gewünscht. Er beginnt sofort, darauf die Töne zu suchen. Die Nacht ist kalt geworden. Bevor sich die Kinder auf die Schlafmatten legen, wickeln sie sich fest in ihre Ponchos ein. Im Dunklen tastet Juanito nach seiner Flöte und sagt leise in den Raum hinein: „Das war ein schöner Heiliger Abend.“ Dolores antwortet ihm nicht. Sie ist sofort eingeschlafen.

Quelle: Rena Sack: Weihnachten in aller Welt
Fotos: Pixabay